Leitung: Prof. Dr. Andreas Kotte, Prof. Dr. Peter W. Marx, Prof. Dr. Virginia Richter
Forschungsassistenten: Dr. des Alexandra Portmann, MA Azadeh Ganjeh
Hamlet’s Odyssee ist ein kulturwissenschaftliches Forschungsprojekt, das in zwei Teilstudien das „Nachleben“ (Warburg) von Shakespeares wahrscheinlich bekanntestem Drama in unterschiedlichen kulturellen Kontexten untersucht. Dabei geht es ausdrücklich nicht um eine motivgeschichtliche Untersuchung, die auf das Spannungsfeld von Konstanz und Variation ausgerichtet ist, sondern um eine Untersuchung des Phänomens kultureller Mobilität, das in den letzten Jahren verstärkt ins Bewusstsein der Forschung getreten ist. Hamlet erscheint in diesem Fokus nicht als unveränderlicher kanonischer Text, sondern als Katalysator, der einen spezifischen Handlungshorizont (agency) entfaltet, in dem unterschiedliche kulturelle Fragestellungen und Zusammenhänge verhandelt werden können.
Fokussiert man die Mobilität kultureller Repertoires, dann ist es schon fast symptomatisch, dass die erste aktenkundige Aufführung von Shakespeares Hamlet 1607 an Bord des englischen Schiffes Red Dragon vor der Küste von Sierra Leone stattfand. Kapitän William Keeling hatte seinen Matrosen den Auftrag gegeben, das Stück zur Unterhaltung seiner Gäste aufzuführen (Hunt 2007, 4). Auch wenn diese Aufführung in der breiten Rezeptionsgeschichte dieses emblematischen Stückes europäischer Dramatik eher wie eine Kuriosität wirkt, ist sie bezeichnend für das hohe Potential von Mobilität, das dem literarischen Text inhärent ist. Darüber hinaus wird das Reisen in unterschiedlichen Formen auch im Text selbst zum Thema: Hamlet und Horatio kommen von Wittenberg nach Elsinore, Laertes aus Paris; Fortinbras ist auf dem Weg von Norwegen nach Polen, Hamlet wird später nach England geschickt. Diese thematische Mobilität entspricht einer tatsächlichen Mobilität in der Rezeptionsgeschichte: Während man bereits für das 17. Jahrhundert durch die fahrenden Schauspieltruppen Inszenierungen des Textes im deutschsprachigen Raum annehmen kann, verbreitete sich der literarische Text, allerdings teilweise in stark veränderter Form, binnen kürzester Zeit in ganz Europa (und den USA) und gewann einen festen Platz im Theater- und Bildungsrepertoire der westlichen Gesellschaften.
Allerdings – und hiervon zeugen die zahllosen Variationen und Adaptionen des Textes – darf man sich dies nicht als einen unaufhaltsamen Siegeszug vorstellen, sondern vielmehr als eine Kette von Auseinandersetzungen, an deren Ende immer wieder eine je kultur- und zeitspezifische Fassung des Shakespeare’schen Dramas stand. In diesem Sinne, so eine zentrale Arbeitshypothese dieses Projekts, ist die grosse Bedeutung, die dem Stück zukommt, nicht Folge und Ausdruck einer ihm inhärenten höheren Wahrheit, die sich gegen alle historischen Wechselfälle stemmt, sondern seiner hohen Wandlungsfähigkeit.
Die beiden Teilprojekte Hamlet-Inszenierungen im Iran: Theatrokratie nach zwei grossen Revolutionen und „The time is out of joint" – Hamlet im ehemaligen Jugoslawien von 1945 bis heute untersuchen die diachronen Verschiebungen in der produktiven Rezeption in zwei spezifischen kulturellen Kontexten. Im Wechselspiel der zwei Projekte mit dem Forschungsschwerpunkt Shakespeare- und Mobilitätsforschung des Hauptbetreuers Prof. Dr. Peter W. Marx eröffnet das Projekt eine neue Perspektive auf das Phänomen von kultureller Mobilität.
Methodisch findet das Projekt eine zentralen Klammer im Konzept von kultureller Mobilität, wie es Stephen Greenblatt (et. al.) 2010 umrissen hat, in der Kulturphilosophie Hans Blumenbergs („Arbeit am Mythos“) sowie Aby Warburgs Vorstellung sich überlagernder Kulturschichten. Das Projekt ist einer kulturwissenschaftlich orientierten Theaterwissenschaft verpflichtet. Für die Ausformulierung des begrifflichen Rahmens werden vor allem Arbeiten zur Zirkulation von Kunst und Kultur zentral sein, wie etwa Erika Fischer-Lichtes Konzept der Verflechtung von Theaterkulturen (Fischer-Lichte 2010, 155-193), Lydia Hausteins Begriff der Global Icons (Haustein 2008), Georges Didi-Hubermans Das Nachleben der Bilder (2010) oder Yvonne Spielmanns Re-Lektüre des Begriffs des Hybriden bzw. der Hybridkultur (Spielmann 2010).